Der Forscher und die Dienstmädchen

Der Sozialökonom Oskar Stillich erkundete das Alltagsleben weiblicher Dienstboten
in Berlin – Sehr zum Missfallen von deren Herrschaften

Von Toni Pierenkemper

Dass Oskar Stillich am Ende seines Lebens an Hunger sterben müsse, hätte ihm bei seiner Geburt als Sohn eines schlesischen Mühlenbesitzers im Jahre 1872 wohl kaum jemand zu prophezeien gewagt. Am letzten Tag des Jahres 1945, ausgebombt nahe Berlin und durch Unterernährung gezeichnet, blick­te er auf wohl zwei Leben zurück. Eines als innovativer Sozial­forscher und Hochschullehrer, das sich in einem bis heute noch längst nicht ausgeschöpften wissenschaftli­chen Œuvre niederschlägt. Sein zweites bedeutendes Engagement umfasste sein Wir­ken als politisch agierender Volkspädagoge, Pazifist und Friedensaktivist, mit dem er, wie viele andere Vertreter seiner Zeit, scheiterte.

Als Wissenschaftler durchschritt er eine bemerkenswerte Entwicklung. Beginnend als Agrarökonom, wan­delte er sich sehr bald zu einem em­pirisch arbeitenden Volkswirt und schließlich zu einem Soziologen. Es verwundert daher nicht, dass der junge Gelehrte sich aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen zuwandte und die Agrarfrage und Zollpolitik des Deutschen Reichs, auch in einem kenntnisreichen Vergleich mit der britischen Situation, kritisch un­ter die Lupe nahm.

Doch damit nicht genug. Nahe­zu gleichzeitig begann er eine Un­tersuchung über die Lebensbedingungen von Heimarbeitern im Meininger Oberland, in der er zahlreiche methodische Ansätze erprobte, unter anderem auch den ei­ner teilnehmenden Beobachtung. Damit hatte Stillich mit der bren­nenden sozialen Frage ein neues Thema gefunden, dem er in der Folgezeit eine Reihe weiterer Studi­en widmete.

Insbesondere seine Untersu­chung über die Arbeitsbedingun­gen der weiblichen Dienstboten in Berlin wirbelte einigen Staub auf. Mit einem von ihm selbst entwickelten Fragebogen hatte er sich direkt an die zahlreichen Dienstmädchen der Stadt ge­wandt, um auf diese innovative Weise belastbare Informationen über deren Lebensverhältnisse zu erhalten. Das empörte natürlich die Herrschaften, die allen Grund hatten, einen Blick in das Innere der bürgerlichen Haushaltsfüh­rung zu fürchten.

In engem Zusammenhang mit seinen Untersuchungen über die Bankbeamten stand Stillichs umfangreiches dreibändiges Werk über Geld, Banken und Börsen. Vor allem analysierte er kenntnisreich das komplexe Börsengeschehen. Doch begnügte er sich nicht mit theoretischen Erörterun­gen, sondern bot dem Börsenpublikum darüber hinaus zugleich einen praktischen Ratgeber für seine Geschäfte. Ebenfalls unternahm er den Versuch, die Kursentwicklung der Aktien mit Hilfe von Kursdiagrammen zu erklären – eine nicht nur gänzlich neue Technik, sie lässt sich auch als Vorläufer der heute häufiger prakti­zierten Chart-Technik verstehen. In seinen „Untersuchungen des deut­schen Parteienwesens“ erschloss sich Stillich ab 1908 ein wei­teres Forschungsfeld.

Der Erste Welt­krieg stellte für Stillich, wie für die deutsche Gesellschaft und Europa insgesamt, eine tiefe Zäsur dar. Der Fokus: seiner Arbeit verschob sich seit­her von der sozialen Frage zu den Problemen der Kriegswirt­schaft und deren katastrophale Folgen sowie auf die politischen Herausforderungen der Nachkriegsordnung.

Bereits 1915 wies er auf das bedrohliche Inflationspotential der Kriegsfinanzierung durch das Reich, machte die ex­orbitanten Kriegsgewinne der Rüstungsunternehmen zum Thema und stellte ihnen die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten entgegen. Hoffnungen auf eine lo­ckende Kriegsdividende nach ei­nem Sieg der deutschen Waffen verwies er in den Bereich der Illu­sionen. Entsprechend kenntnisreich benannte er 1920 „Die wah­ren Ursachen unserer Wirtschafts- ­und Finanznot“ vor allem als eine Folge des Krieges.

Was nun sei­ne erfolgreiche Tätigkeit als Friedensaktivist, Pazifist und Volkspädagoge betrifft, so nahm diese einen weniger erfolgreichen Verlauf als seine akademi­sche Karriere. Bereits 1898 beteiligte er sich am Auf­bau der „Münchener Friedensvereinigung“ und bezog damit früh Position gegen den Nationalismus und Gewaltgeist der nationalen Rech­ten. In seinen Schrif­ten wandte er sich schon im Ersten Weltkrieg vehe­ment gegen jedweden Annexionismus und „Siegfrieden“. Stattdessen plädierte er für einen Verständigungsfrieden  Ähnlich wie mit seinen Analysen zur Kriegswirt­schaft und zur Nachkriegsordnung machte sich Oskar Stillich mit seiner Kritik an den herrschenden Eliten des Kaiserreichs zahlreiche Feinde, was mit großen Schwierigkeiten einherging.

Schon 1908 griff man ihn wegen seiner unvoreingenommenen Einstellung aus dem rechten Lager heftig an. Doch scheiterte die Forderung nach seiner Entlassung aus dem Amt „als Do­zent an der Humboldt-Hochschule“ am Widerstand der Kollegen und der Hochschullei­tung.

1926 wiederholte sich das Un­terfangen und wuchs sieh zu einem öffentlichen Skandal aus. Dieses Mal waren es seine Schriften zum Versailler Vertrag, die zu ei­nem von Seiten völkischer Kreise initiierten förmlichen Begehrens Anlass gab, ihm seine Stelle zu rauben.

In mehreren Schriften hatte Stillich die Auffassung vertreten, dass der Ver­sailler Vertrag zwar hart, aber keinesfalls unangemessen oder unerfüllbar sei. Insbesondere wenn man sie mit den Bedingungen vorangehender Friedensverträge Deutschlands mit den Unterlegenen vergleiche. Vor allem die Verträge mit der Sowjetunion  (Brest-Litowsk) sowie mit Ru­mänien (Bukarest) aus dem Jahr 1918 waren derart weitge­hend, dass man sie als eine Blaupause für die spätere Raub- und Ausbeutungspolitik der Natio­nalsozialisten in den besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs ansehen kann. All das machte ihn gegenüber der gesam­ten Rechten in der Weimarer Re­publik und eines großen Teils der Öffentlichkeit zum „Landesverräter“, Feind und Au­ßenseiter.

Es ver­wundert daher nicht, dass Oskar Stillich nach der Machtergreifung Hitlers sofort aus dem Dozentenamt entfernt und alsbald mit einem Publikationsverbot belegt wurde, zumal er sich in einer, allerdings anonym publizierten Buchreihe vehement und profund mit der deutschvölkischen Bewegung auseinandergesetzt hatte. Sein umfangreiches Werk aus der Zeit seiner „inneren Emigration“ fand in den beginnenden 1950er Jahren seinen Weg in das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München, harrt aber nach wie vor auf eine Veröffentlichung.

Mit großem Engagement und vielfältigen Ambitionen für eine Welt des Friedens, der Verständigung und er sozialen Gerechtigkeit eintretend, vermochte sich der Gelehrte in der Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nicht durchzusetzen. Seine sozialliberale Haltung und marxistisch-materialistische Geschichtsauffassung, seine Aktivitäten in der Friedensbewegung und seine pädagogi­sche Bindung an das akademisch wenig angesehene Volkshochschul­wesen sowie die Arbeiterbil­dung standen mit dem Mainstream der deutschen Wissenschaft in argem Widerspruch. Aus heutiger Sicht muss man je­doch sagen: Oskar Stillich verkörpert mit seiner wissenschaftlichen Orientierung den besseren Teil der akademischen Traditionen des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Auffassung von Gesell­schafts- und Wirtschaftsanalyse als Sozialökonomik der deutschen Sozialwissenschaft könnte er als Vorbild dienen.

Toni Pierenkemper war Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Sein Artikel ist erschienen in: Frankfurter Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 50, S. 36, 14. Dezember 2014. Das hier vorliegende Porträt stellt eine überarbeitete und leicht ergänzte Fassung dar.