Die Zustände im deutschen Konzentrationslager in Wittenberg während der Typhusepidemie im Jahre 1915

Titelumschlag des Buches von Auguste Trimbalet „Von Soyecourt nach Wittenberg“, 2009

Mitgeteilt vom Britischen Generalkonsulat, Zürich – Veröffentlicht in der Neuen Züricher Zeitung, Nr. 801, S. 1 f., 19. Mai 1916

Als ich den hier nun erstmals in Deutschland veröffentlichten Artikel bei Recherchen über den Ersten Weltkrieg im Sommer 1982 im Archiv der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) fand, war ich überrascht und erschrocken. Ich fragte mich, wie ist es zu erklären, dass deutsche Behörden Menschen 1915 in einem Lager so zusammenpferchen, dass ihr Überleben nicht mehr zu gewährleisten ist. Handelte es sich vielleicht um Kriegspropaganda?

Inzwischen ist klar, dass der in der NZZ publizierte Bericht der Realität entspricht. Das belegen die Erinnerungen des französischen Pfarrers Auguste Trimbalet (1867-1929) aus Soyécourt an der Somme. Seit Oktober 1914 im Lager Wittenberg, hielt er seine Erlebnisse bis zu seiner Mitte Juni 1915 erfolgten Freilassung fest. Seine Aufzeichnungen widmete er im Herbst 1915 dem Bischof von Amiens. Ein Nachdruck des Buches „Von Soyécourt nach Wittenberg“ im Originaltext und mit der Übersetzung aus dem Französischen brachte 2009 der „Drei Kastanien Verlag“ in Wittenberg mit einem Vorwort von Klaus-Walter Vetter heraus. Die verdienstvolle und empfehlenswerte Ausgabe ist unter der ISBN-Nr. 978-3-933028-90-1 weiterhin zu erwerben. Über die Situation im Lager schreibt K.-W. Vetter: „Es fehlte monatelang an allem, an Unterkünften, an ausreichender Verpflegung, an sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung, Unterernährung, unbehandelte Krankheiten, Seuchen forderten unzählige Opfer, bevor es zu Verhältnissen kam, die für ein Gefangenenlager als ‚normal‘ zu bezeichnen waren.“ Damit fasst er zusammen, was A. Trimbalet in seinen Aufzeichnungen ausführlich schildert; sie bestätigen den Bericht der englischen Militärärzte aus der NZZ nicht nur, sondern gehen sogar noch über ihn hinaus.

Die menschenverachtende Behandlung der Gefangenen und ihre „Verhöhnung von Seiten der Bevölkerung“ weisen auf eine Mentalität und ein Verhalten hin, die gemeinhin dem Nationalsozialismus zugeordnet wird. Doch sind solche Einstellungsformen auch in den Jahren nach 1918 aufzufinden. Darüber wird der nächste Text Auskunft geben.

Die hier wiedergegebenen Skizzen vom Leben im Gefangenenlager Wittenberg stammen von Jeanne Pierre Laurens (1875-1932), Spross einer bekannten französischen Künstlerfamilie, und sind archiviert in den „Städtischen Sammlungen der Lutherstadt Wittenberg“. Die Blätter wurden 2004 im „Heimatkalender der Lutherstadt und des Kreises Wittenberg“ veröffentlicht und von Dr. Karl-Heinz Mader (Celle) gewürdigt. Der Kalender ist ebenfalls im „Drei Kastanien Verlag“ erschienen, aber leider vergriffen.

Das Kriegsgefangenenlager Wittenberg (auch „Kleinwittenberg“ genannt) – Postkarte, 1914/15

Auf Veranlassung der englischen Regierung hat ein Regierungskomitee unter dem Vorsitz eines englischen Oberrichters eine Untersuchung der Zustände im deutschen Konzentrationslager in Wittenberg während der Typhusepidemie im Jahre 1915 eingeleitet. Die überlebenden englischen Militärärzte Major Priestley, R.A.M.C., Captain Vidal, R.A.M.C., und Captain Lauder, R.A.M.C., sind vernommen worden und haben vor dem Oberrichter ihre herzzerreißenden Erfahrungen niedergelegt. Von sechs englischen Militärärzten waren die oben genannten die einzig Überlebenden, um die haarsträubenden Erlebnisse erzählen zu können, welche im Lager existierten, zu einer Zeit, als die deutschen Militärärzte dasselbe im Stiche gelassen hatten. Das Wittenberger Lager umfasste 4 Hektar 20 Ar und ist durch die üblichen Stacheldrahtzäune umringt. Es ist in acht Teile geteilt. Jedes Teil enthält sechs Holzbaracken mit zwei Unterabteilungen. Jede Baracke war für 120 Mann gedacht; sie enthielten jedoch bis zu 200 Mann. Die englischen Gefangenen zählten zwischen 700 und 800. Am zahlreichsten waren die Russen. Die Gesamtzahl der Gefangenen variierte zwischen 15 000 bis 17 000 auf einem Komplex von 4 Hektar 20 Ar, was an und für sich viel zu viel ist. Es hat stets an Heizmaterial gefehlt. Zeitweise waren keine Kohlen zu haben und musste man alle Fenster schließen, um die menschliche Wärme festzuhalten. Den englischen Gefangenen wurden ihre Mäntel weggenommen; sie waren in Lumpen gekleidet; manche hatten weder Socken noch Stiefel und wickelten ihre Füße in Stroh ein. Sie erhielten keine Waschgelegenheit. Nur in der Küche war warmes Wasser. Major Priestley bezeichnet den Zustand der Gefangenen als bejammernswert. Die Nahrung war schlecht und ungenügend, obgleich es außerhalb des Lagers an Nahrungsmitteln nicht gefehlt hat. Je zehn Mann erhielten 1 Kilo Brot. Das Frühstück bestand aus schlechtem Brot und dünnem Kaffee. Die Mittagssuppe enthielt nur vereinzelte Stückchen Fleisch. Die Leute sahen oft tagelang kein Bröckelchen Fleisch in ihrer Suppe.

Die Essensausgabe
Auspeitschung

Als die deutschen Wärter noch im Lager waren, bestand eine Kantine. Diese wurde geschlossen, als die deutsche Wache bei Ausbruch des Typhus wegzog. Vom Mai 1915 ab lebten die englischen Gefangenen ausschließlich von Nahrung, welche ihnen aus England zugesandt wurde. Vorher war die von den Deutschen gelieferte Nahrung so ungenügend und mangelhaft, dass die Leute nicht imstande waren, einer Krankheit zu widerstehen. Es existierte für je drei Mann nur eine Matratze, und mussten ein Engländer, ein Franzose und ein Russe zusammenschlafen. Der Typhus brach bei den Russen aus, und zwar bekanntlich durch ihre Läuse, mit denen sie in unzähligen Mengen behaftet waren. In Wittenberg wurden gegen die Läuse keinerlei Mittel angewendet. Alle paar Wochen wurde eine Tasse voll schwarze Seife für 120 Gefangene verabreicht, so dass die Läuse sich nach Belieben vermehren konnten. Der deutsche Generalstabsarzt hielt es für angebracht, keinerlei Gegenmaßregeln zu treffen, um die Ausdehnung des Typhus zu verhindern, trotz der Warnung der englischen Ärzte. Die Oberleitung des Lagers befand sich in der Hand des deutschen Oberstabsarztes Dr. Aschenbach. Die Typhusepidemie brach im Dezember 1914 aus. Die sämtlichen deutschen Ärzte verließen sofort das Lager und betraten es erst wieder im August 1915. Die deutschen Ärzte führten während dieser Zeit ihr ärztliches Amt nicht aus. Der Verkehr des Lagers mit der Außenwelt spielte sich auf eine Entfernung von 20 Meter durch die Stacheldrahtverhaue ab. Zu Anfang des Typhusausbruchs waren nur zwei kleine Holzhütten als Spitäler vorgesehen, welche etwa hundert Patienten enthalten konnten und in keiner Weise für die Verhältnisse genügten, Die Ankunft und Zuteilung der englischen Ärzte erfolgte folgendermaßen:

Alarm! – Im Alarmfall müssen die Gefangenen in ihre Baracken zurück! Wer seinen Platz nicht in 10 Minuten nach dem Signal-Pfiff eingenommen hat, wird sofort erschossen.
Typhus – Wittenberg – Januar-Mai 1915

Im November 1914 waren dreizehn englische Ärzte in Halle an der Saale gegen die Bestimmungen der Genfer Konvention interniert worden, und man kann nur annehmen, dass sie willkürlich behalten worden waren, um als Ersatz für die deutschen Ärzte wirken zu müssen. Am 10. Februar 1915 wurden sechs dieser englischen Ärzte nach Wittenberg gesandt. Major Fry, Major Priestley, Captain Sutcliffe, Captain Field, Captain Vidal und Captain Lauder meldeten sich freiwillig. In Wittenberg angekommen, fanden sie  einen Zustand des Lagers vor, welcher jeder Beschreibung spottet. Vorübergehend wurden zwei der englischen Ärzte außerhalb des Lagers in den Kronprinz- und Elbarfin-Spitälern verwendet, und zwar bis zum 7. März 1915. Von den zurückgebliebenen vier englischen Ärzten im Wittenberger Lager ist nur ein einziger am Leben geblieben, und zwar Captain Lauder.  Außerhalb des Spitals war nur eine Matratze für je drei Mann vorgesehen. Im Spitalraum waren überhaupt keine Matratzen. Folglich wollte kein Patient das Spital betreten. Nahm der Patient seine Matratze mit ins Spital, so hatten die andern zwei keine Matratze mehr. Blieb die Matratze zurück, so schliefen die zurückgebliebenen zwei Gefangenen auf einer infizierten Matratze und wurden natürlich krank. Tragbahren gab es auch nicht, so dass die Kranken auf Tischen getragen werden mussten, auf welchen nachher gespeist wurde. Da heißes Wasser und Seife fehlten, konnten die Tische nicht gewaschen werden, so dass das Essen der Leute infiziert wurde. Die deutschen Ärzte hatten verboten, dass für die Kranken genügender Platz geschaffen werde, indem sie von den Gesunden getrennt wurden. Die Patienten erhielten pro Tag eine halbe Tasse Milch und ein halbes Brötchen. Die Suppe kam stets voll Staub und Schmutz aus der Küche an. Von Krankenkost war keine Rede, es fehlte sogar warmes Wasser. Major Fry und Captain Sutcliffe starben am Typhus vier Wochen nach ihrer Ankunft. Captain Field starb ebenfalls später. Captain Lauder wurde am 7. März ebenfalls typhuskrank. Er war der einzige, welcher sich erholte. Am 7. März kamen Major Priestley und Captain Vidal aus den benachbarten Spitälern nach dem Wittenberger Lager, als Major Fry und Captain Sutcliffe im Sterben lagen. Zurzeit waren etwa tausend Typhuskranke im Lager, und täglich liefen etwa fünfzig und mehr frische Fälle ein. Unter diesen waren etwa 150 Engländer erkrankt, und sie lagen zerstreut unter den Franzosen und Russen, in belgischen, französischen und russischen Uniformen. Sie lagen in ihren Kleidern auf dem Boden oder auf Matratzen. Im Spital waren anfangs gar keine Betten und niemals genug Matratzen für alle.

Der Feldwebel: „Verfluchter Schweinehund!“
Schule des Grüßens: „Man wird euch in Deutschland schon Respekt beibringen… ihr Franktireurs!“

Major Priestley beschreibt, wie die Kranken sich auf ihren beschmutzten Matratzen im Delirium wälzten, zum Teil mit dicken Schichten von Läusen bedeckt. In den meisten Fällen lagen die Kranken so dicht nebeneinander, dass der Arzt mit gespreizten Beinen über sie stehen musste, um eine Untersuchung vornehmen zu können. Die Patienten lagen in ihrem eigenen Schmutz auf den Matratzen, die jeder Beschreibung spotten. Es waren niemals genügend pharmazeutische Mittel oder Apothekerwaren erhältlich. Kampferöl, das wichtigste Mittel, fehlte überhaupt. Die meisten Patienten wurden bettwund. Ihre Zehen und Füße wurden brandig. Einem Engländer musste im Mai das eine Bein und im Juli das andere unterhalb des Knies abgenommen werden, weil sie brandig geworden waren. Die vielen Fälle von Brand sind einzig und allein auf den Mangel an Pflege zurückzuführen. Spitalkleidung gab es überhaupt nicht. Nur eine einzige kleine Schwefelkammer war vorhanden. Wenn die Kleider der Patienten desinfiziert werden mussten, so war kein Ersatz da, so dass die Desinfektion niemals vollkommen ausgeführt werden konnte. Das Waschen der Patienten war rein unmöglich, weil überhaupt keine Seife vorhanden war. Die Seife musste aus England beschafft werden. Major Priestley, Captain Vidal und Captain Lauder leisteten Übermenschliches. Sie setzten es durch, dass die Engländer zusammengebracht wurden. Endlich gelang es dem Major Priestley, für jeden seiner Patienten in der englischen Abteilung drei Becher Milch pro Tag zu erhalten sowie einige kleine weiße Brötchen. Er setzte es auch durch, dass ein Desinfektionsapparat aufgestellt wurde. Eine ganze Anzahl der englischen Gefangenen unterstützte ihre Offiziere in aufopfernster Weise und starb den Heldentod. Nur ein einziges Mal erschien der deutsche Oberstabsarzt Dr. Aschenbach in infektionssicherer Kleidung und Gummihandschuhen. Nachträglich erhielt er das Eiserne Kreuz. Mit obiger Ausnahme kamen die deutschen Ärzte nicht ins Lager. Täglich wurden die Toten eingesargt und auf den Friedhof hinaus transportiert.

Die Schaulustigen – Sonntagnachmittag in Wittenberg 1915

Am schwersten zu tragen waren die Verhöhnungen von Seiten der deutschen Bevölkerung, wenn der tägliche Leichenzug vorbeizog. Von 300 erkranken Engländern starben 60. Die Sterbefälle unter den Franzosen und Russen waren prozentualisch viel zahlreicher. Der größte Prozentsatz unter den Toten erfolgte unter den Krankenpflegern und Ärzten. Der Prozentsatz der Brandfälle war ganz unnormal hoch; es war dies jedenfalls infolge der ungenügenden Heizung und Bekleidung. In sehr vielen Fällen mussten die Patienten auf dem nackten Boden liegen. Matratzen mussten oft vernichtet werden, da ihr Zustand unbeschreiblich war. Captain Vidal versichert, dass die Deutschen gar keinen Versuch machten, die unglaublichen Zustände zu verbessern, obgleich ihnen der Sachverhalt bekannt war. Erst im April 1915 erfolgte eine Besserung, indem wenigstens Betten beschafft wurden. Der von den Deutschen erbaute Sterilisator wurde erst fertiggestellt vierzehn Tage, nachdem der letzte Typhusfall unter den Engländern ausgebrochen war. Auch wurden nun neue Baracken gebaut; allein diese wurden erst fertig, nachdem die letzten Typhusfälle geheilt waren. Die Zustände des Lagers waren dermaßen schlecht, dass es für den amerikanischen Gesandten unmöglich war, dasselbe zu besuchen, bis viele Monate später. Erst am 20. Oktober besuchte Mr. Lithgow-Osborne, und erst am 8. November kam der amerikanische Gesandte Gerard selbst. Infolge dieser so sehr verspäteten Besuche erfolgten nun Verbesserungen im Wittenberger Lager. Vergebens sucht man nach Entschuldigungen für den entsetzlichen Zustand des Wittenberger Lagers. Man wird keine finden. Außerhalb des Lagers war kein Mangel, und in den umliegenden Spitälern war alles Nötige zu haben. In der Stadt Wittenberg selbst war Überfluss. Und doch im Lager von Wittenberg herrschte Mangel an allem, was nötig war. Von Anfang an bestand die Misswirtschaft der Deutschen im Wittenberger Lager, und schließlich verließen die deutschen Offiziere das Lager und übten ihre Befehle von außen her mit geladenen Gewehren aus. Mr. Lithgow-Osborne, der Vertreter der Amerikanischen Gesandtschaft, äußerte sich folgendermaßen: „In keinem Lager habe ich die Gefangenen mit einem solchen Angstgefühl behaftet gefunden als im Wittenberger Lager, wo die Menschen vor Angst sich nicht zu äußern wagten.“ Mr. Gerard, der amerikanische Gesandte, äußerte sich folgendermaßen: „Nach vorsichtiger und genauer Untersuchung des Lagers und nach langen Unterredungen mit den Gefangenen war der Eindruck, den ich erhielt, noch viel ungünstiger, als ich durch erfolgte Erkundigungen zu erwarten glaubte.“

Kriegsgefangene – Titelblatt der 1919 von Jean-Pierre Laurens veröffentlichten Zeichnungen

Das Regierungskomitee kann zu keinem andern Resultate kommen, als dass die fürchterlichen Leiden und Entbehrungen, welche die Gefangenen erlitten habe, verursacht wurden durch die vorsätzlichen Grausamkeiten der Deutschen und ihr Versäumnis, die einfachsten Pflichten auszuführen, wie sie die Genfer Konvention vorschreibt, nämlich, dass die Kranken ohne Unterschied der Nationalität gleich gut wie die eigenen Leute behandelt werden sollen. Die Deutschen handelten, als ob die Genfer Konvention für sie gar nicht existierte. Es ist dem Regierungskomitee unfassbar, wie es möglich ist, dass der leitende Arzt Oberstabsarzt Dr. Aschenbach noch die Direktion des Lagers behalten darf, nachdem die Zustände im Lager von ihm geduldet wurden. Wie schon erwähnt, haben die englischen Ärzte Übermenschliches geleistet. Major Priestley, Captain Vidal, Captain Lauder wurden von den Gefangenen einfach vergöttert, und es kann ihnen nicht genug Lob gespendet werden. Diese Offiziere loben das Verhalten ihrer Soldaten, welche sich unter der denkbarsten schwierigsten Lage in glänzender Weise opferten, und viele sogar ihr Leben lassen mussten in der Ausübung ihrer Pflicht. Das Regierungskomitee bestätigt, dass jeder dieser Offiziere und Soldaten sich für ihr Vaterland bereitwilligst geopfert habe und dass viele davon, ebenso wie an der Front, den Heldentod gestorben sind.

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