„Die Deutschen aus unbekannter Sicht“ – von Helmut Donat

Apotheose des Krieges – Ölgemälde von Wassilij Wereschtschagin, 1871/72, das auf dem Rahmen die Inschrift trägt: „Gewidmet allen großen Eroberern, den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen.“

Kennzeichen der nationalsozialistischen Verbrechen ist die Menschenverachtung. Ihr Pendant, das Mitgefühl, ging vielen Deutschen lange vor 1933 verloren. Die Rubrik „Die Deutschen aus unbekannter Sicht“ geht jener Kontinuität der Geistesverirrung in der deutschen Politik nach, die vom wilhelminischen Kaiserreich über den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu den Gaskammern von Auschwitz reicht und mit der auch nach 1945 nicht konsequent gebrochen worden ist. In dieser Perspektive zeigt sich, dass die Erklärung des Nationalsozialismus allein aus dessen Herrschaftsapparat oder der Person Hitlers heraus allemal zu kurz greift. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Worte des konservativen französischen Essayisten, Literaturkritikers und -historikers Henri Massis (1886-1970): „Nicht Hitler hat Deutschland, nein, Deutschland hat Hitler hervorgebracht.“

Deutsche Soldaten mit großspurigen Sprüchen auf dem Weg an die Front, August 1914
Die Kriegsmühle – Zeichnung von Willibald Krain, nach 1918

Selbst die Existenz von Konzentrationslagern ist kein singuläres Charakteristikum des „Dritten Reiches“ gewesen. Solche Lager wurden bereits im Ersten Weltkrieg von deutschen Behörden errichtet. Gerade das Fehlen des Mitgefühls für alles Fremde und Nichtdeutsche sowie das Vertrauen auf die bloße Gewalt und die „herrenmenschliche“ Behandlung und Knechtung anderer Völker lenken den Blick auf ein Mentalitäts- und Verhaltensmuster, das in einem nicht geringem Maße immer noch oder schon wieder gegenwärtig ist.

Sieht man von aufklärerischen Tendenzen und einer Reihe von Ausnahmen in den 1980er und 1990er Jahren ab, so ignorieren viele Historiker und Publizisten erneut die zwischen dem zweiten deutschen Kaiserreich und dem „Dritten Reich“ sowie die zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg bestehenden Zusammenhänge und Verbindungslinien. Das „Dritte Reich“ soll weder etwas mit der Weimarer Republik noch mit dem Kaiserreich, der Erste Weltkrieg nichts mit dem Zweiten sowie der preußische Militarismus nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun haben. Dieses schon kurz nach 1945 errichtete Tabu wirkt bis heute nach und steht einer unbefangenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus weiterhin im Wege. Es hindert auch daran, die tieferen Ursachen des Rechtspopulismus in Deutschland zu erkennen, der sich aus völkischen Wurzeln speist.

Notwendige Fragen an das historische Material werden in der Regel nicht gestellt. Mehr noch. Um die bahnbrechenden Forschungen des Hamburger Historikers Fritz Fischer (1908-1999) der 1960er und 1970er Jahre über den Ersten Weltkrieg und das vom Kaiserreich bis ins „Dritte Reich“ sich erstreckende „Bündnis der Eliten“ wegzuwischen, als obsolet hinzustellen und die Führungsschichten des Kaiserreichs und des Militarismus zu entlasten, behandeln Gegner ihn inzwischen als eine Art Popanz, der es, obwohl oder gerade weil sie an seinen sehr hohen Standard quellengesättigter Einsichten nicht im Mindesten heranreichen, nicht einmal wert sei, dass man sich in einem Proseminar mit ihm befasse (Herfried Münkler). Oder man greift wie Christopher Clark auf gegen F. Fischer gerichtete Interpretationsgefüge zurück, die längst widerlegt sind, sich an der deutschen Unschuldspropaganda nach 1918 orientieren, mit seriöser historischer Forschung nichts zu tun haben und verdeutlichen, dass die Geschichtsschreibung in Deutschland sich, wie Bernd F. Schulte es erst kürzlich charakterisiert hat, weiterhin „als die politischste der Wissenschaften“ erweist.

Die von der deutschen Luftwaffe 1941 zerstörte Stadt Murmansk – Foto: Jewgenij Chaldeij

Weder ist das NS-Regime vom Himmel gefallen, noch war und ist der Ungeist des Nationalsozialismus an die Herrschaftsperiode des „Dritten Reiches“ gebunden. Vielmehr hat er sich schon vorher in der Mentalität zahlreicher und einflussreicher Deutscher ausgeprägt – so die nach wie vor gültige Erklärung Oskar Stillichs. Geht man von dieser Denkvoraussetzung aus – und viele wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen dafür, dass es nicht anders gewesen sein kann –, müssten sich in den Jahren und Jahrzehnten vor 1933 Phänomene und Verhaltensformen finden lassen, die die Menschenverachtung und Barbarei des NS-Regimes mehr oder minder vorwegnehmen.

In der Rubrik „Die Deutschen aus unbekannter Sicht“ erscheinen künftig in lockerer Folge Texte, die ein besonderes Schlaglicht auf die jüngere deutsche Geschichte werfen. Sie sollen zum Nachdenken über einen wichtigen Aspekt der deutschen Mentalität anregen. Dazu gehört auch die verbreitete Methode, Unliebsames zu verdrängen oder so zu verbiegen, dass eine Verantwortung oder Mitverantwortung an begangenem Unrecht nicht mehr oder kaum noch zu erkennen ist und eine Beschäftigung damit als nicht sinnvoll erscheint. Zugleich sind alle Interessierte aufgefordert, ähnliche Texte einzusenden, die nach gewissenhafter Prüfung hier wiedergegeben werden sollen. Ebenso sind begleitende oder kritische Kommentare willkommen. Wir hoffen damit, ein wegweisendes Forum zu schaffen, das sich einem neuen Umgang mit der deutschen Vergangenheit aufschließt.

Anonym verfasste Sendungen bleiben unveröffentlicht bzw. werden gelöscht. Sinn und Zweck der neuen Rubrik ist es, sich zu fragen, ob und wie viel an völkischer Ideologie noch unbewusst in jedem Deutschen steckt sowie einen Beitrag zur Aufklärung über die Ursachen des Nationalsozialismus zu leisten – und die Gründe dafür zu ermitteln, warum der Versuch, den fortgesetzten Irrweg in die Barbarei nach 1918 zu stoppen, gescheitert ist. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich auch die Chance, den Rechtspopulismus und Antisemitismus wirksamer zu bekämpfen, als es bislang der Fall ist.

Damit geht eine weitere Aussicht einher, nämlich jene wirklich deutschen Patrioten in Erinnerung zu rufen, die ihr Land, gerade weil sie es liebten, nach 1918 vor erneutem Krieg und Elend bewahren wollten und vor der Entwicklung, die zu 1933 und allem, was danach geschehen ist, gewarnt haben. Sie wurden nach 1933 nicht nur von den Nazis verfolgt, sondern nach 1945 auch von denen vergessen gemacht, die dem NS-Regime ihre Hand gereicht hatten und nicht bereit waren, ihre Irrtümer und Fehlleistungen zuzugeben. Zu sehr führten sie durch ihre Kritik vor und nach 1933 vor Augen, dass der Weg in den Zweiten Weltkrieg nicht zwangsläufig war. Sie sind –von Politik und Geschichtsschreibung – bis zur Unkenntlichmachung ihrer Existenz verdrängt und ausgegrenzt worden. Oskar Stillich (1872-1945) gehört ebenso wie der von ihm geschätzte Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) zu jenen Persönlichkeiten, die in der sogenannten „Erinnerungskultur“ bislang keinen angemessenen Platz gefunden haben und deren Einsichten, obwohl vom Geschichtsverlauf mehr als bestätigt, weiterhin dem historisch-politischen Diskurs über wesentliche Fragen der jüngeren deutschen Geschichte entzogen sind. Um diesen Mangel zu beheben und damit verbundene Legenden zu überwinden, freuen wir uns auf Hinweise. Ermutigungen und Hilfe nehmen wir gern entgegen.

Der Nationalsozialismus (siehe Hitler „Mein Kampf“) wünscht Krieg gegen Russland, Krieg gegen Frankreich und Krieg gegen die Randstaaten. – Nun, das wird kein Krieg, sondern eine Jagd. – Aber Sie, Herr von Papen, wird man dann fragen, wer die Bestie aus dem Käfig gelassen! – Der wahre Jacob, 1932
Friedrich Wilhelm Foerster
Vergebliche Warnungen – Von Friedrich Wilhelm Foerster

In London fragte mich Sir A[rthur Neville] Chamberlain [1934] in einer Aussprache über die Perspektiven der deutschen Politik, ob ich es denn nicht für möglich hielte, dass man Hitler noch von seinen unmöglichen Projekten abbringe? Ich sagte, ich könne darauf nur mit einem indischen Sprichwort antworten: „Wer auf einem Tiger reitet, der kann unterwegs nicht mehr absteigen.“

Und das große Problem „Europa und die deutsche Frage“ spitzt sich folgendermaßen zu: Wird dies Programm, soweit es militärisch verwirklicht werden sollte, infolge der wachsenden Gegenrüstung Europas als ein allzu großes Risiko in letzter Stunde aufgegeben werden? Was geschähe dann? Das Hitler-Deutschland würde der Welt den Frieden erklären und Südosteuropa durch friedlichste Durchdringung langsam so in seine Gewalt bekommen und von dort aus soweit nach Vorderasien vorstoßen und durch jede Art von Propaganda die britischen Weltinteressen so bedrohlich unterminieren, dass es zum Schluss doch zur Katastrophe kommen würde. Die übrige Welt soll sich nur keine Illusion darüber machen, dass man es mit einer so unheilbaren Mentalität und einer so festgewachsenen Tradition zu tun hat, dass dieser Mitwelt nichts übrig bleibt, als sich gegenüber den auf friedliche Zusammenarbeit ausgehenden deutschen Vorschlägen (stets von riesiger Propaganda unterstützt) noch weit misstrauischer zu verhalten als gegenüber den militärischen Machenschaften und den offenen Intrigen, und umso mehr, als in den maßgebenden nationalsozialistischen Schriften stets das Schweigen über die letzten Ziele und jede Art von schlauer Anpassung und von geschickter Ausnützung fremder Schwierigkeiten und Spaltungen empfohlen wird.*

Wer kann sich mit einem Wildbach verständigen, wer einen Pakt schließen mit einem Vulkan? Diese besessenen Menschen wissen ja selber gar nicht, was in der nächsten Stunde in ihrem kochenden Willensleben zur Herrschaft kommt oder was selbst gegen ihren Willen in der entflammten Nation plötzlich zum nationalen Programm erhoben wird. Mit tiefer Kenntnis der deutschen Mentalität schrieb [der französische Journalist und Schriftsteller] René Benjamin (1885-1948) in seinem Buche „Les Augures de Genéve“ [1929]:

„Seine Loyalität, sein Wille, seine Vernunft, seine Arbeitsgaben, alles wird von einer Flamme verzehrt, die plötzlich aus den Tiefen seines Selbst aufsteigt, aus dem letzten Geheimnis seines Temperamentes, seiner Erbschaften, seines erschreckend rätselhaften Volksschicksals: Verträge, Pakte, Diskussionen, Vorsichtsmaßregeln, Konzessionen, nichts zählt gegenüber diesem Naturverhängnis. Selbst wenn alle Deutschen zusammen in einem unermesslichen nationalen Chorgesang mit der denkbar größten Aufrichtigkeit schwören würden, dass sie sich von jetzt an wie Lämmer betragen würden, welche Bürgschaft wäre mit all diesem ehrlichen Vorsatz gegeben, da sie doch gegen ihren eigenen Willen plötzlich zwangsläufig zu Wölfen werden?“

Zum Troste sagt uns [Leo] Tolstoi [1828-1910]: „Gott schickt vom Himmel immer frische Scharen von Kindern…“ Er schickt auch immer frische Scharen von deutschen Kindern, und der Tag wird kommen, wo man ihre deutschen Seelen wieder mit den wahren Vermächtnissen des Deutschtums befruchten und mit Hilfe des lebendigen Christus den Fluch des Vergangenen von ihnen nehmen kann. Dann erst wird Deutschland der Welt wiedergutmachen können, was es ihr angetan hat. Aber vorher muss das allmächtige Schicksal noch mit dem deutschen Volk reden und sein Wahngebäude bis auf den letzten Stein zerschlagen.

* Nichts ist unerträglicher, als wenn diese Menschen, die genau wissen, dass alle ihre wesentlichen Programme nur durch Krieg zu verwirklichen sind, in der Sprache der zivilisierten Welt von Frieden und Völkergemeinschaft reden; man hat dabei genau denselben Eindruck wie auf den Bildern, wo sie fotografiert sind und freundlich lächeln: Das ist, wie wenn die Eisbären lächeln.

Aus: Friedrich Wilhelm Foerster, Europa und die deutsche Frage. Eine Deutung und ein Ausblick, Luzern 1937, S. 450 ff.

Auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, 1945

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